Der Liebestrank - Gefangen im Elisir-Netzwerk
Ilaria Lanzino inszeniert in Nürnberg einen bezaubernden Liebestrank. Dabei transportiert sie die Komödie in die Zeit der sozialen Netzwerke, was vor Ort wirklich unglaublich gut funktioniert. Sie lässt in dem Stück zwei Versionen des Dulcamara, des angeblichen Doktors und Quacksalbers der Oper, gegeneinander antreten. Während Dulcamara 1.0 echte Weinflaschen an die Dorfbewohner gibt, zieht ein diabolisch, schwarzer Dulcamara, der etwas an Fantomas erinnert, die Dorfbewohner in ein soziales Netzwerk.
Die Oper startet mit dem eigentlichen Ende. Nemorino, der mittellose Junge vom Dorf, heiratet vor einem künstlichen Baum, seine angebetete Adina mit Brautschleier. Das Ganze könnte aus einer Otto-Schenk-Inszenierung entsprungen sein, so werkgetreu werden die Dorfbewohner dargestellt. Die Aufführung könnte wirklich um 1815 im Baskenland spielen, man sieht eine wunderbar gemalte Kulisse und die Dorfbewohner tragen historischen Kostümen. Mit dem Auftritt eines Dulcamara 2.0, der aus der Unterwelt mit vier Gehilfinnen hervorkommt, endet die Idylle aber. Mit einem übergroßen Handy von Bühnenhimmel, auf dem ein magenta-farbener Tropfen zu sehen ist, verkauft er den Dorfbewohnern unsichtbare Smartphones und den Zugang in ein soziales Netzwerk. Die legen darauf ihre historischen Kostüme ab und bewegen sich in einer Art Bauhaus-Zukunft mit weißen, symmetrischen Gewändern. Bereitwillig scannen sie ihre Gesichter ein und lassen sich im sozialen Netzwerk verschönern. So wird aus dem ersten Darsteller ein Muskelmann, aus der zweiten eine jugendliche Schönheit. Auch Adina ist mit einem stilisierten Reifrock ins digitale Netz eingetaucht, nur Nemorino behält als Außenseiter die historischen Kostüme an. Das ganze Dorf ist quasi mit dem Netz ein Gefangener des Dulcamara 2.0. In dem Netzwerk können Follower gesammelt werden, zu sehen an Elisir-Flaschen, die sich füllen. Adina posiert unter einem riesigen Handy-Bildschirm und sammelt dort ihre Follower ein. Nemorino hat keine Chancen. Adina liest die Geschichte des Liebestrank von Tristan und Isolde aus einem Elisir-Buch vor. Adina geht auf die Suche nach dem passenden Partner im Netzwerk und hat ein Match mit Belcore. Belcore ist dabei nicht ein Kämpfer, sondern ein Zocker mit einer Gamer-Gang, die Halo spielt. Für das erste Treffen steckt sich Adina virtuelle Push-Ups in den BH. Belcore ist aber ziemlich übergriffig, ein glatzköpfiger Gämer in Schwarz, der Adina an ihre Brüste fasst und letztlich ihren Reifrock herunterreißt. Nemorino sieht keine andere Chance, als selbst Teil des Netzwerks zu werden, um Adina zu erobern. Dulcamara 1.0 sieht das kritisch und will sich darauf hin erhängen. Um 10 am nächste Tag sollte ein Duell zwischen Belcore und Nemorino in Halo sein, zu sehen an einem großen Masterchief-Logo. Nemorino hat für den Wechsel ins Netzwerk ein modernes Kostüm an und sammelt jetzt ebenfalls Follower. Es kommt zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung zwischen Belcore und Nemorino. Während Belcore aus dieser Aktion mit mehr Followern hervorgeht, sieht man am Bildschirm, wie die Follower von Nemorino sinken und bei 9 stehen bleiben. Die Dorfbewohner erscheinen mit LED-Ringen und beleuchten die Szene, wie Nemorino blutig geschlagen wird. Die blutige Auseinandersetzung wird dabei live verfolgt und die Bilder davon ins Netz gestellt. Belcore geht als Sieger hervor und wird im nächsten Akt Adina heiraten.
Nach der Pause beobachtet Dulcamara 2.0 die Hochzeit von Adina und Nemorino. Das Ganze wird auf fünf großen Monitoren live ins Netz gestreamt. Das eigentliche Brautpaar wird zur Nebensache und man sieht, wie sich die Gäste im Netzwerk selbst inszenieren. Adina will den Vertrag mit Belcore aber erst unterschreiben, wenn Nemorino als Zeuge unterschreibt. Diese dramatische Verwicklung unterbricht den Livestream für kurze Zeit. Um Geld für einen weiteren Liebestrank zu haben, willigt Nemorino ein, bei den Soldaten anzuheuern. Es findet ein virtuelle Kampf mit VR-Brillen statt zwischen Belcore und Nemorino. Unterdessen fällt der reiche Onkel von Nemorino mit einem Smartphone in eine Grube und verstirbt. Hier funktioniert der Ansatz mit dem sozialen Netzwerk sehr gut. Das Ereignis des Erbes wird bekannt im Netzwerk und alle Damen umschwärmen plötzlich Nemorino. Der Gemüsehändler hätte diese Neuigkeit der Erbschaft erfahren und sie muss wohl stimmen. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich die Nachricht im sozialen Netzwerk. Jetzt wird es Dulcamara 1.0 zu viel. Er dringt ins Herz des sozialen Netzwerks ein und lässt dort drei Böller los. Die Bildschirme erlöschen der Reihe nach und die Dorfbewohner sind frei. Dulcamara 2.0 fährt in die Hölle und hat seine Macht verloren. Adina legt ihre moderne Kleidung ab und ist gerührt von Nemorino. Er meint die Zuneigung an einer Träne von Andina ablesen zu können und singt seine Arie: Una furtiva lagrima. Adina kauft den Ehevertrag von Belcore zurück. Sie ersetzt das A+B (Adina und Belcore) durch A+N(Adina und Nemorino) am Baum. Am Ende befindet man sich wieder in der Otto-Schenk-Idylle. Die Dorfbewohner tanzen, tragen Kisten mit Äpfeln auf die Bühne und sind fröhlich. Der Spuk des sozialen Elisir-Netzwerks ist vorbei, scheint es. Zum Finale kommen die Gehilfinnen von Dulcamara 2.0 ins Parkett. Als Schlussbild sieht man Dulcamara 2.0 lachen. Man sieht die Dorfbewohner echte Handys zücken. Vielleicht ist der Spuk doch nicht ganz vorbei?
Die Vorstellung war ausverkauft und hat das Zeug zu einem richtigen Dauerbrenner zu werden. Das vorwiegend junge Publikum war begeistert und spendete langen Applaus. Manchmal bleibt einem bei dem Verhalten der Dorfbewohner nur das Gruseln, wie stark die sozialen Netzwerke inzwischen die Wirklichkeit dominieren und das Verhalten der Leute beeinflussen. Handys sind in der Inszenierung nie zu sehen, die Dorfbewohner wischen vor sich im Leeren auf imaginären Bildschirmen. Nicht das Gerät ist das Problem, sondern das Netzwerk dahinter. Eigentlich eine komische Oper die ganze Sache, bei der einem stellenweise aber so gar nicht mehr zum Lachen zu Mute ist. Gesungen und gespielt wurde sehr gut, wobei der Nemorino die ideale Rolle für Martin Platz ist. Andromahi Raptis zündet ein Kolloraturfeuerwerk und reizt ihre Möglichkeiten voll aus, vor allem gegen Ende. Mit Francesco Sergio Fundarò war für mich ein neuer Dirigent am Pult, der die Oper mit viel Tempo vorantreibt. Die Inszenierung ist ein großer Wurf der Italienerin Ilaria Lanzino. Bei den Chorszenen ist immer Bewegung mit im Spiel und dumpfes Rumstehen ist nicht möglich. Wie die Lemminge bewegen sich die Dorfbewohner im sozialen Netzwerk, folgen diesem und jenem schnell hinterher, geben kurz Applaus und inszenieren sich dann wieder selbst. Ich kann die Aufführung nur empfehlen, wenn man keine Angst vor dem Spiegelbild hat, das einem vorgehalten wird. Gerade das scheinbar glückliche Ende wirft Fragen auf: Ist Dulcamara 2.0 wirklich besiegt?
Quelle: YouTube | Staatstheater Nürnberg
1 Kommentar
Kommentar von: xcornix Besucher

Das hast du toll beschrieben. Habe Kopfkino vom feinsten .Danke