Parsifal VI und der blaue Zuckergral
Über den Internet-Vorverkauf ist es mir auch dieses Jahr gelungen, zum Parsifal nach Bayreuth zu fahren. In einer Inszenierung von Jay Scheib wurde dort im sechsten Durchlauf eine saubere Vorführung dargeboten, die vor allem musikalisch überzeugte. Während dem spanischen Dirigenten Pablo Heras-Casado anfangs noch nachgesagt wurde, die heikle Akustik des Hauses nicht gut zu beherrschen, konnte man dies in der sechsten Aufführung überhaupt nicht mehr feststellen. Im Gegenteil: am Ende erhielt der Dirigent eindeutig viel Beifall, wie die gesamte Sängerriege. Jetzt steht man bei dem Parsifal vor der Frage: Augmented Reality-Brille, ja oder nein. Da die Kartenpreise im Jahr 2023 stattlich gestiegen sind und die Sache mit der Brille nochmal 30% Aufpreis gekostet hätte, fiel meine Entscheidung gegen die Computereinblendungen in einer individualisierten Brille. Dabei wäre zwei Reihen vor mir ein solcher Platz frei gewesen, den sich prompt eine vermeintlich pfiffige Mitbesucherin gesichert hat. Nur wurde sie mit der Entscheidung nicht glücklich, da die Brille nicht auf ihre Sehstärke angepasst war und sie immer wieder die Brillen wechseln musste. Etwas amüsiert habe ich aus der hinteren Reihe ihre Bemühungen beobachtet. An dem heißen Augusttag wurden die sechs Stunden dauernde Aufführung, zu einem teuren Saunagang mit drei Aufzügen. Dennoch war dies letztlich die Sache wert. Während ich die Kostüme von Meentje Nielsen ziemlich beliebig fand, denn da war vom Pannenhelfer, über die Strickwestenträgerin, bis zum Bergwerker im Tarnrock alles dabei. Zugegeben war ich etwas neidisch auf die kurzen Hosen des Parsifals im zweiten Akt und die Möglichkeit, im hauseigenen Wasserbecken, seine Füße abzukühlen. Besonders positiv ist mir die Lichtregie mit einem Strahlenkranz aufgefallen. Während man im ersten Akt sehr sparsam mit Effekten war, drehte man im zweiten Akt richtig mit dem Bühnenbild auf, was das Publikum am Ende mit viel Applaus bedachte. Im dritten Akt siegte dann eindeutig die Musik.
Schon bei der Ouvertüre macht sich die Neuzeit durch ein fallendes Handy bemerkbar. Die Gralsburg ist ein stilisierter Turm, der gegen Ende des Akts auch gleißendes Licht aussenden kann. Es wird der Gralskönig Amfortas hereingetragen, der eine schlimme Wunde hat, die nicht heilen will. Für das Publikum liegt der König etwas ungünstig hinter der Gralsburg, dennoch entgehen einem die blutigen Details der Wunde nicht, durch eine bühnenfüllende Großaufnahme von Amfortas Brust. Im Hintergrund am Boden liegt ein Schienenkreis scheinbar. An einem noch kleinen Tümpel nimmt der König nun ein Bad. Warum Kundry als Zigeunerin auftritt, ist wieder so ein Kostümeinfall. Parsifal erscheint, nachdem er einen Schwan abgeschossen hat. Gurnemanz, der Hüter des Tempelbezirks, weist ihn auf sein Fehlverhalten mit dem Abschuss des Schwans hin. Auch diesen Schwan sieht man später blutig in Großaufnahme im Hintergrund. Als Kundry den Tod von Parsifals Mutter bekannt gibt, will Parsifal ihr an die Kehle. Der Kranz am Boden erhebt sich, als Amfortas das Ritual der Gralsverehrung ausüben soll. Es kommen die weiß-gelben Gralsritter aus dem lichten Untergrund der Bühne. Amfortas enthüllt widerwillig und unter Schmerzen ein blaues Oktaeder. Inzwischen hat Gurnemanz ein Parament angezogen und sieht damit wie ein katholischer Priester aus. Es stehen verschiedene liturgische Gefäße auf der Bühne. Parsifal nimmt an dem Abendmahl teil. Er ist fest entschlossen, Amfortas zu helfen. Denn die Wunde von Amfortas kann nur von dem Speer geschlossen werden, der sie einst geschlagen hat. Gurnemanz schickt ihn aber fort. Dieser etwas karge Aufzug wird von dem Publikum mit wenig Applaus gewürdigt, wahrscheinlich würde der mit den Einblendungen der Brille mehr Effekte beinhalten, so bietet er viel kahle Fläche für Projektionen.
Im zweiten Akt sieht das mit den Effekten ganz anders aus. Klingsor steht mit einem rosa Anzug, vermutlich eine Anspielung auf Barbie, mit hochhackigen Schuhen in einem gläsernen Prisma. Die Figur ist eindeutig divers. Am Kopf trägt er einen verspiegelten Hörnerhelm. Immer wieder blitzt es aus dem Prisma des Schlossbereichs, der ebenfalls in rosa eingerichtet ist. Parsifal nähert sich der Burg, in dem er senkrecht mit zwei Schildern die Wand hinabläuft. Dies ist ein unglaublich guter Effekt ist, denn die Gesetze der Physik scheinen im Zauberschloss nicht zu gelten. Kundry bittet Klingsor, sie vom Fluch der Widergeburt zu erlösen. Kundry wird beauftragt, Parsifal, wie Amfortas zur verführen. Jetzt kommt ein neonbunter Garten vom Bühnenhimmel. Klingsors Blumengarten mit den Mädchen, sieht aus wie ein neonbunter Rückfall in die Rave-Zeiten der Neunziger Jahre. Die Damen tragen dabei ebenfalls viel Rosa, was zur Farbe des Hausherrn passt. Als die Mädchen mit ihren Reizen scheitern, die aber auch einen abgeschlagenen Kopf durch die Gegend werfen, tritt Kundry selbst als eine 70er-Jahre Diva auf. Im Hintergrund sieht man einen Toten liegen. Der Tümpel in Mitte der Bühne ist nun viereckig und rot umrandet. Mit einer kurzen roten Hose, einem weißen Hemd mit Herzen und der Aufschrift „Remember me“, das Parsifal trägt, versucht nun Kundry auf einer Matratze vor dem See, Parsifal für sich zu gewinnen. Auch wenn der Mann mit der Videokamera bisweilen die Szenen etwas stört, die Großaufnahmen von Parsifal und Kundry, sind dennoch sehr hilfreich. Es gelingt Kundry nicht, Parsifal von seinen Gedanken an Amfortas abzubringen. Warum Parsifal allerdings der toten Puppe das Herz herausnimmt, ist ein Rätsel der Inszenierung. Nicht mal die Nennung seines Namens und die Erinnerung an seine Mutter Herzeleid– daher wahrscheinlich die vielen Herzen am T-Shirt – können ihn Verführen. Ihre Schreie der Verzweiflung rufen Klingsor auf dem Plan, der den Speer gegen Parsifal schleudert. Etwas ungelenk landet Klingsor auf der Matratze und versinkt etwas später als Double in den Tiefen mit seiner Burg. Parsifal ruft Kundry zu: “Du weißt, wo du mich wiederfinden kannst” und geht mit dem Speer zur Gralsburg. Bei diesem Akt wacht das Publikum nun endgültig auf und quittiert ihn mit dem gebührenden Applaus. Die visuelle Umsetzung der Blumenmädchen ist einfach großartig.
Im dritten Akt siegt dann eindeutig die Musik. Der Teich ist noch einmal größer geworden, darin versenkt ist der Strahlenkranz aus dem ersten Akt. Die Szenerie erinnert etwas an ein Bergbausetting in Star Wars. Rechts steht eine große Bergbaumaschine auf der Bühne, man fühlt sich etwas an Tatooine auf Star Wars erinnert. In der linken Ecke am See steht ein beleuchtetes Zelt. In einer Großaufnahme sieht man Kundry am Boden liegend. Gurnemanz in einem zerrissenen Nachthemd, ruft diese Kundry ins Leben zurück, worauf sie erwacht und nur noch dienen will. Es kommt Parsifal mit einem verpackten Speer und rotem Untergewand unter der Rüstung auf die Bühne. Gurnemanz fordert zum Frieden an Karfreitag auf und man solle doch die Waffen ablegen. Er erkennt Parsifal wieder und Kundry wäscht Parsifal die Füße. Tituriel ist tot und wird in einer Plastikverschweißung, wie Han Solo auf die Bühne gebracht. Amfortas soll den Gral nochmal enthüllen. Er sieht in seinen schwarzen Stiefeln etwas aus wie Darth Vader. Schließlich kommen die Gralsritter in Militärröcken im Bergbau-Look auf die Bühne. Klar, dass sich der Strahlenkranz nun zum Karfreitagszauber aus dem See erhebt und tropfend am Bühnenhimmel erstrahlt. Parsifal schließt mit dem Speer die Wunde von Amfortas. In dieser Inszenierung wird der blaue Grals-Oktaeder nun von Parsifal zerstört. Im Teich stehend unter dem Strahlenkranz verkündet der neue König Parsifal das Ende alter Rituale und den Anbruch einer neuen Zeit. Niemand soll mehr unter Schmerzen den Gral enthüllen müssen.
Auch wenn man sich versucht, den Videos und Bilder im Vorfeld von Parsifal zu entziehen, gelingt das durch die mediale Präsenz der Premiereninszenierung nur zum Teil. Ich wollte mich von den Effekten überraschen lassen und dennoch wurde der zerbrochene Gral durch ein Leak in der Bürgerreuth öffentlich. Dort lag ein Artikel von einem Zuckerbäcker aus Oberfranken aus, der 20 Zuckergrals gefertigt hat für die Aufführungen. Wenn ich also diese Wendung in der Inszenierung verrate, hoffe ich niemand zu spoilern. Musikalisch gab es an diesem Abend nichts auszusetzen. Auch die Regie kann man gutheißen. Ganz daneben waren jedoch die Kostüme, die bisweilen sehr willkürlich zusammengestellt waren. Am Ende gab es viel Applaus für diesen 6.ten Parsifal vom Publikum, egal ob mit AR-Brille oder ohne. Georg Zeppenfeld als Gurnemanz war überragend, Parsifal von Andreas Schager durchschlagend, Ekaterina Gubanova als Kundry verführerisch.
Eine kleine Fortsetzung von 2022 gab es, als ich die Toilettenfrau Sieglinde in der Herrentoilette getroffen habe. Für ihre Bonbons im Siegfried im letzten Jahr, habe ich mich nochmals herzlich bedankt. Leider ist das für sie die letzte Saison und ich hoffe auf ein adäquates Personalkarussel für die tragende Rolle mit ihren Bonbons im Festspielbetrieb. Machen Sie es gut und genießen Sie ihre verdiente Rente nach den Winterstürmen ums Festspielhaus-WC unter dem Wonnemond.
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